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Die Gerüche der Kindheit
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Die Gerüche der Kindheit

 

Die Gerüche der Kindheit

In diesem Jahr ist es schon sehr früh kalt geworden. Es ist der 3. November und es fallen die ersten Schneeflocken, die sogar liegen bleiben. Ich war zu Hause und bereitete schon die ersten Teige für die bevorstehende Adventszeit vor. Gute Pfefferkuchenteige müssen lange ruhen, bevor sie gebacken und mit Genuß verzehrt werden können.
Während meiner sorgfältigen Vorbereitungen auf die dann folgende Teigzubereitung wanderten meine Gedanken bis in meine Kinderjahre, in das Vorkriegs-Berlin der 30er Jahre ab. Ich erinnere mich, wie meine Großmutter dieses Backritual einleitete. Alle Tätigkeiten mit ihr haften stark in mir, weil sie immer mit vielen Geschichten und besonderen Erlebnissen verbunden waren.
Eines Morgens weckte sie mich ganz früh, tat sehr überrascht und wichtig und forderte mich auf ganz schnell mit ihr ans Fenster zu kommen, um das herrliche Morgenrot zu erleben, denn ab heute, es war so Ende November, wird im Himmel Pfefferkuchen gebacken, der gerade einen lilarosa Zuckerguß bekommt.
So schnell wie an diesem Morgen war ich wohl nie wieder aus dem Bett und am Fenster. Staunende Begeisterung und letztendlich die gewollte Verführung und Wunschanregung, auch hier zu Hause zu backen, denn nur Großmutter konnte so backen, daß sie die ganze Großfamilie nebst Freunden zum Naschen verführte.
Sie machte mir klar was wir alles brauchten und ließ mich in den Küchenschrank schauen in dem das alles fehlte was sie als nötig aufgezählt hatte. So blieb nur eins, wir mußten einkaufen gehen. Nach einem sehr kurzen Frühstück machten wir uns auf den Weg in die kleinen Läden der großen Stadt. Es wurde ein vergnüglicher Vormittag, der wieder, damit es nicht langweilig wurde, mit allerhand Geschichten, Märchen und Deutungen gespickt war.
In kurzer begreiflicher Form für mich kleines Mädchen erzählte sie mir vom Kleinen Muck, der im Sonnenland mutterseelenallein lebte und sehr arm war, daß seine spätere Herrschaft gerne Feigen aß, wie er sie besorgte, und was dann geschah. Klug war der Kleine!
Meine Großmutter berichtete mir auch, daß wir nun von diesen schönen Früchten, die hier nicht wachsen und reifen können. Große Schiffe fahren übers Meer und bringen uns diese Köstlichkeiten, damit wir sie im Weihnachtskuchen genießen können.
Wir landeten gut gelaunt und voller Spannung in einem Kolonialwarenladen von dem Oma behauptete, dort die besten Zutaten und Gewürze zu bekommen. Wir waren leicht beladen und aus der Tasche drangen Düfte, die sich mit den Omageschichten zu einer unvergeßlichen Wahrnehmung verbanden und jährlich wiederkehrten.
Schwatzend und Schaufensterbetrachtend erreichten wir die Attraktion des Tages.
In einem kleinem Geschäft war der Eingang schon die Pforte zum Märchenland. Wir standen vor dem Knusperhäuschen von Hänsel und Gretel welches mit allen süßen Sachen, die sich ein Kind bloß wünschen konnte, behangen war. Da waren Pfefferkuchen so groß wie ein Backblech mit vielen Mandeln versehen, die sich die Kinder herausbrechen konnten. An einigen Stellen war schon geknuspert worden. Also waren Hänsel und Gretel schon hier gewesen. Holt die Hexe nun auch mich? Aber nein, deine Oma beschützt dich ja, bekam ich zur Antwort. Ganz geheuer war mir dann die Sache doch nicht und ich blieb eisern und knabberte nicht. Knabbern war für mich wie anklopfen und ich wollte nicht zur Hexe. Oma sollte nur ein paar Baumkringel kaufen und dann sollten wir schnell wieder gehen. Schade eigentlich, es roch so verlockend. Märchen bleibt Märchen aber man kann ja nie wissen.
Viele Male steuerte ich diesen Laden noch an, aber niemals ging ich hinein. War nur entzückt wenn jemand die Ladentür öffnete und die Wohlgerüche sich vor mir ausbreiteten und mir langsam in die Nase stiegen. Da konnte ich träumen von fernen Ländern.
Dieselben Rituale spulten sich ab, als ich meine Kinder in das Weihnachtsbacken einbezog. Einmal so ein Naturschauspiel mit solcher Deutung verbunden das haftet für immer.
Tagelang löcherten und fragten mich meine Kinder voll Ungeduld, ob nicht schon ein bißchen wenigstens vom Morgenrot zu sehen wäre. Da meine Beiden Langschläfer waren, nutzte ich diese Situation schamlos aus und sagte: Um das festzustellen, müßtet ihr schon früher aufstehen. Danach geschah folgendes: Zu meinem Erstaunen stand jeden Morgen eines meiner Kinder früher auf, um den Zeitpunkt des Morgenrots und den Beginn des Einteigens nicht zu verpassen. Das zu erreichen, trafen sie mit ihrem Großvater, der als Familienfrühaufsteher galt, ein Abkommen. Er sollte jeden Tag eines der Kinder vor dem Wecken munter machen und mußte Ausschau halten.
Einige Jahre warten meine Kinder auf dieses verheißungsvolle Morgenrot wie auf den Nikolaus und den Weihnachtsmann und es entfaltete sich jedes Jahr die gleiche große Geschäftigkeit. Als sie älter wurden, funktionierte das einfach über Daten, aber die Vorfreude, die der ganze Zauber, der meine Kinder und mich umgab, blieb.

Heute ist wieder so ein Morgenrot, nur bin ich allein in der Küche, meine Kinder sind schon erwachsen und ich backe für unsere Jungfamilien. Manchmal kommt meine Tochter und wir backen gemeinsam mit Freunden und mit meiner Enkeltochter. Dabei muß nach alter Familienüberlieferung der so begehrte Honigkuchenteig angesetzt werden und darf, bis er am nächsten Tag gebacken wird, seine Wohlgerüche verströmen.

In meiner Familie und in unserem Freundeskreis sind meine Weihnachtsgebäcke schon ein Muß. Ohne diese, worauf sich jeder freut, besonders aber die Kinder, die heute schon Jugendliche sind, geht nichts. Übrigens, Sarah, die Tochter meiner Freundin, wurde von einer amerikanischen Familie für ein Jahr als Austausch-Schülerin aufgenommen. In einem Telefongespräch mit ihr wurde auch das Rezept der Walnußplätzchen übermittelt. Auf diese Weise wird heute das Heimweh besiegt, denn Weihnachten im fremdem Land ist schon eine seltsame Sache. Plötzlich merken die ach so cool erscheinenden und so sich gebenden Jugendlichen, daß sie auch Gefühle zeigen, von denen sie beherrscht werden. Das berührt sie mehr, als sie sich eingestehen wollen.

Nach meinen Gedankenausflügen war ich nun wieder zu meinem rituellen Backen der vorweihnachtlichen Genüsse zurückgekehrt, da unterbrach mich das Telefon. Meine Freundin Marlis sagte ein Treffen ab, was ich natürlich bedauerte, aber den Grund dafür akzeptieren mußte. Ich hörte ihr geduldig zu. Während sie noch sprach, reifte eine Idee in mir. Ich gab ihr zur Antwort - bevor du nach Berlin zu deinen Bekannten fährst, mit denen auch ich bekanntgeworden bin, komm bitte zu mir und nimm ein paar Weihnachtskekse für sie mit, als herzlichen genußvollen Gruß von mir. Sie war sofort einverstanden. Nachdem alle Plätzchen in einer ganz stinknormalen Blechdose verpackt waren, mußte ich alles noch ein bißchen weihnachtlich verpacken. Schließlich war diese Liebesgabe für einen Schwerkranken bestimmt. Sie sollte doch alle Sinne erfreuen und ein wenig Mut machen. Aber was kann Mut schon gegen AIDS und den damit (bis jetzt) verbundenen Todesaussichten schon ausrichten. Er kann nur helfen, daß die Seele nicht vereinsamt und schon vor dem körperlichen Tod stirbt.
Meine Freundin hatte also einen nicht alltäglichen Besuch vor sich, der mich schon im Vorfeld des Geschehens bewegte. Alles war fertig, da rief sie wieder an: Ich möge morgen nicht auf sie warten, sie könne nicht fahren, der kranke Freund liegt wieder im Krankenhaus. Diese Situation im Krankenhaus ist so erschütternd für Außenstehende und noch mehr für die Betroffenen, daß sie erst später kommen solle.
Ihr Bekannter, der seinen kranken Freund schon seit einigen Monaten intensiv und aufopfernd pflegt, wollte ihr diese Erschütterung nicht antun.
Er kennt sich aus, lebt schon lange damit und weiß um die Ratlosigkeit und Hilflosigkeit Außenstehender, die jede schwere Krankheit auslöst und im Besonderen immer noch AIDS.

Also blieben die Büchse und die guten Wünsche noch eine Weile hier bei mir stehen und veranlaßten mich immer wieder über Liebe und Aufopferung, Leben und Tod nachzudenken. Fragen -- Wie und wann merkt ein Mensch es, wann er gehen muß, wie bereitet er seinen Abgang von den Freunden dieser Welt vor, wenn der Tod nicht spontan eintritt? Wann kann ein Mensch in solcher Phase der Ahnungen vom Leben oder einigen Lebensabschnitten loslassen? -- Immer wieder kreisten meine Gedanken um diesen erschütternden Einschnitt im Leben mit Freunden: Wann kann es mich treffen, wann werde ich einen liebgewordenen Menschen bis zum letzten Lebenszeichen begleiten? Wie werde ich mich dann verhalten? Werde ich es aushalten? Bleibt mir selbst soviel Zeit, mich vom Leben um mich herum zu verabschieden, ausgesöhnt mit mir selbst, mit dem Bewußtsein,
diesem Leben nichts schuldig geblieben zu sein. Plötzlich überfiel mich der Drang immer mehr, über mein bisheriges Leben nachzudenken immer mit der Frage: War es das wirklich schon, müßte da nicht noch was aufregendes passieren, was wird noch alles geschehen? Was will ich mit meinem Lebensrest noch tun? Wie werde ich ihn sinnvoll gestalten, denn der größte Teil meines Lebens ist schon gelebt.

Einige Tage später war das Päckchen endlich zu seinem Bestimmungsort unterwegs. Ich fühlte mich wie befreit und meine Betroffenheit klang etwas ab, aber nur bis zum Besuch meiner Freundin, die mir nun von ihrem Besuchserleben unbedingt berichten mußte, denn auch sie mußte ihre Erschütterung verarbeiten.
Wir saßen nun bei Tee und Kerzenlicht in der Küche. Ich erfuhr nun von den überaus starken Empfindungen, die meine Vorweihnachtsplätzchen bei dem todgeweihten Freund auslösten. Sie erzählte mir, wie sehr ihn die Gerüche an sein ehemaliges Zuhause erinnerten, denn er hatte ebenfalls eine solche tolle Großmutter, die er schon längst verloren hatte und damit auch die familiäre Geborgenheit. Er meinte, in ganz Berlin wären solche Plätzchen nicht aufzutreiben. Diese exotischen Düfte und Gaumenfreuden nebst Kindheitserinnerungen könnten nur wirkliche Freunde für ihn backen. Seit Wochen konnte er nur mit größten Anstrengungen Speisen zu sich nehmen und auch bei sich behalten. Doch diese duftenden Plätzchen waren einfach mit soviel wohligen Empfindungen verspeist worden, daß sie ihm bekamen. Als ich das hörte, dachte in diesem Augenblick an meine Kindheitserlebnisse, die mich mit meiner Großmutter verbanden und deren Güte, Fürsorge, Nachsicht und Verständnis ich nie vergessen werde, weil sie mich geprägt und mir zu meiner jetzigen Lebensauffassung verholfen hat, konnte ich die Bewegtheit des Freundes sehr gut nachempfinden. Die Adventstimmung in der Stube, die ihm sein jüdischer Freund, trotz seines anderen Glaubens und anderer Ritualen hingezaubert hat, tat sein übriges dazu. Es war ein kleines Stückchen Abschied, da er von seiner Kindheit erzählen konnte und noch einmal alle Begeisterungen dieser einst so unbeschwerten Zeit nacherlebte. Er konnte auf seinem Weg ein Stückchen loslassen und war glücklich über diese Erleichterung, die es ihm ermöglichte, über vieles zu sprechen, was bis dahin noch erwähnt geblieben war. Es war seine Art, sich von seinem Freund zu verabschieden. Beide Männer, so erfuhr ich, empfanden am Ende ihrer großen Liebe noch einen gewaltigen Höhepunkt. Die Erinnerung an ihre gemeinsam verbrachte Zeit bekam eine noch wertvollere Bedeutung für den Zurückgelassenen.

Wenige Zeit danach stellte ich meiner Freundin und mir einen wunderschönen Lilienstengel mit drei weiß- und cyclamfarben gestrahlten Blüten in einer blauen Vase auf unseren Tisch, steckten uns ein Licht an, und wir dachten an all das, was uns grade geschehen war, spürten den Verlust und wehrten uns nicht unserer trauernden Gedanken.
Nach langem Schweigen stellten wir fest, daß sich nach tiefer Betroffenheit doch ein leichtes Glücksgefühl breitmachte. Wir waren froh darüber, unseren Freunden zu diesem großen letzten Erlebnis verholfen zu haben.

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Die Familiennikolausgeschichte

Es geschah in den 70er Jahren. Unser Sohn Basim besuchte schon die Schule und Susekind ging jeden Tag mit mir gemeinsam in den Kindergarten.

Es wurde langsam kühler, der Herbst neigte sich dem Ende und damit näherte sich die zu erhoffende Schneezeit, und natürlich fieberten auch alle Kinder dem Nikolaustag entgegen.
Immer zu Beginn des Winters setzte auch eine Schuhkaufphase ein. Alle Schuhe vom vergangenen Jahr waren zu klein. Na klar!
Also ging´s auf die Jagd nach Schuhen oder vielleicht sogar auch auf passende Stiefelchen.

Wir hatten erstaunliches Glück und bekamen am Vorabend des Nikolaustages für den Basim ein Paar schilffarbene Mokassins aus kombiniertem Wild- und glattem Leder. Für die liebe Suse ein Paar richtige rötlichbraune Ruprechtstiefelchen. Unsere Freude war groß.

Nun konnte der Nikolaus kommen und seine süßen Sachen sogar in neue Schuhchen stecken. Langsam näherte sich der Tag dem Abend und er endete für die Kinder wie immer mit dem Sandmann. Danach war Nachtruhe angesagt.

Die Erwachsenen der Familie Oma, Papa und Mama zogen sich in die Fernsehstube zurück. Die Kinder wisperten noch einige Zeit herum, dann wähnten wir sie schlafend.
Nach einer Weile, ich wollte wohl frischen Tee machen und dann weiter fernsehen, machte ich eine Entdeckung, die mir fast das Herz zum Stillstand brachte. Unsere schlafendgeglaubten Kinder standen im Schlafanzug auf dem Flur.

Das allein wäre keine Situation, um mich in Schrecken zu versetzen. Nein, es kam noch viel besser. Beide Kinder sahen ganz merkwürdig erregt aus.
Ihre Gesichter glühten vor Spannung, ihre Augen sprühten vor Eifer. Ihre Hände, Haare und Nachtanzüge wiesen einige verschmierte schwarze Flecken auf. Ich ahnte - es war schwarze Schuhcreme. Der größte Teil des Tubeninhaltes befand sich nun, wie ich mir denken konnte und dann auch feststellte, auf den so schwer erstandenen Schuhen. - - -
Ein Schrei des Entsetzens, denn Basims Schuhe nahmen es sehr übel. Er hatte nun das ganze schilffarbene Wildleder gründlich zugestrichen und es wollte und wollte nicht blank werden.

Die Mär um den Nikolaus und dessen Gaben verlangte glänzendes, sauber geputztes Schuhwerk.- - Ohjeh - - - Auch Suses rostrote Stiefelchen hatten einen schwarzen Anstrich. Hilfeschrei nach dem Rest der Familie.
Ich zeterte und konnte alles kaum fassen. Die Kinder verteidigten sich damit, daß ihnen eingefallen wäre, die Schuhe noch nicht geputzt zu haben.
Na ja, aber ihr habt doch miterlebt, daß eure Schuhe ganz neu sind und diese Pflege und Fürsorge noch nicht benötigen.
Protest von Suse, aber dann bekommen wir doch nichts vom Nikolaus! - - Betroffenes Schweigen bei den Erwachsenen und Ingo murmelte so vor sich hin ja, ja so ist es mit dem Glauben, schnappte sich die Schuhe vom Basim und meinte, die bekomme ich wieder hin. Trotzdem blieben es nun alte Schuhe.
Auf Suses Stiefelchen saß die Schuhcreme nur obenauf und ließ sich leicht entfernen. Es blieb ein zarter schwarzer Hauch. Viel schwieriger war es, ihr Gesicht, ihre Hände und ihre Haare wieder klarzubekommen.
Ihre Tränen, die nun liefen nach der Erkenntnis, nun wohl doch nicht alles richtig gemacht zu haben, reichten nicht aus, die schwarzen Spuren zu entfernen. Sie mußte in die Wanne, ebenso ihr Schlafanzug.

Bei all den Aufregungen und nächtlichen Waschaktionen wäre es fast dem Nikolaus unmöglich gemacht worden, seinen Pflichten nachzukommen.
Immer wieder versicherte sich Suse - aber er wird doch wohl noch kommen können! ?
Nach einem tiefen Seufzer meinte ich ganz fest, der Nikolaus wird einen kurzen Umweg machen und später kommen, denn er läßt sich nicht gerne bei der Arbeit zusehen.

Dieses ganze Manöver hatte die Spannung bis zum Zerreißen gebracht und es war nicht leicht für die Kinder, einzuschlafen. Am Morgen war dann alles wie ein böser Traum vergessen und die Kinder stellten fest, er war doch da !

Viel später erst ist uns klargeworden, daß wir in dieser Nacht eine der wunderbarsten und niemals zu vergessenden Begebenheiten mit unseren Kindern erlebt haben.

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Der ungewöhnliche Weihnachtsbaum

Jedes Jahr vor Weihnachten, wenn es schon nach Bratäpfeln duftete, es draußen empfindlich kalt wurde, warteten alle auf Schnee. Erst wenn es um diese Zeit wenigstens ein bißchen geschneit hat, dann kam die Frage auf, wer ist in diesem Jahr verantwortlich, den Weihnachtsbaum zu besorgen. Irgendwann in diesen Tagen brach diese Familiendiskussion beim Abendbrot aus. Wer damit anfing, dem anderen den Kauf zuzuordnen, ist hinterher nicht mehr feststellbar. Irgendwann, als unsere Kinder schon sehr kritikfähig waren, gab es kräftige Beschwerden über dem vom Hausherren oder der Hausfrau mitgebrachten Weihnachtsbaum. Dieses Thema dürfte in unseren Breiten schätzungsweise jede dritte Familie erfassen. Er ist entweder zu klein, zu ausladend, sogar schief, ihm fehlt das gute Mittelstück, er ist zu eng gewachsen, kein Platz für die Kerzen und so ließe sich diese Mängelfindung beliebig weiterführen.

Für all diese Unzulänglichkeiten wurden aber in jeder Familie, je nach kreativem Erfindungsreichtum, Abhilfe geschaffen. Mit einem unsichtbaren Faden irgendwie geradeziehen, ein paar nachgekaufte Zweige eindrehen oder die dicken Enden einfach absägen, und der so gestaltete Baum paßt in jede kleine Ecke wie immer und reißt auch die Decke nicht auf. Immer wurden alle geliebten Habseligkeiten wieder untergebracht, denn Heiligabend fällt nicht aus.

Wie seltsam der Baum ausfallen kann, haben wir in unserer Familie erlebt.

In diesem Jahr verhielten sich alle Familienmitglieder sehr abwartend mit dem Baumkauf. Es näherte sich der 23.12. und auf dem Balkon war immer noch nichts Nadliges zu sehen. Nach einigem scharfen Hin und Her blieb der Weihnachtsbaumkauf also bei Suse hängen.
Armes Kind.! - - - -
Sie stiefelte nun zum Weberplatz, in der Hoffnung dort noch irgendeinen grünen Besen zu erhaschen. Dort fegte der alte Verkäufer, kaltgefroren und mürrisch die letzten Fitschel zusammen und meinte, grade von dem kargen Rest sich nun ein Feuerchen zu machen.
Na bloß nicht, ich brauch doch noch einen Weihnachtsbaum.
Fassungslos wurde sie beobachtet, wie sie mit größter Hingabe und Phantasie noch an diesem oder jenem grünschimmernden Gerippe etwas schönes zu finden versuchte. Einer der schlimmsten Exemplare stand da unbeachtet an die Seite gelehnt. Er stand schon lange da. Fast hätte sie ihn übersehen. Mit humorigem Schalk in ihren Augen und noch ketzerischen Gedanken an ihre bummelige Familie nahm sie ihn mit nach Hause. Der alte Mann band ihn ihr nicht einmal mehr zusammen. Er meinte es lohne sich sowieso nicht, aber Geld nahm er, wobei ich überzeugt war, daß sie sehr gefeilscht hat.
Sie schleppte nun dieses Ungetüm unter den mitleidigen Blicken der eiligen Passanten nach Hause und wagte sich ihn mir zu präsentieren.
Wie sie es tat, war schon eine Sonderleistung und stand den so gepriesenen italienischen Marktweibern in nichts nach. Ich war völlig verdutzt, daß sie mit so einer Krücke hier auftauchte. Sie stand vor der Tür, hielt mir das Prachtstück entgegen, ich stand ihr genau gegenüber auf der wärmenden Seite des Türspaltes und ließ die auf mich eindrängende Suse nicht mit dem Baum in die Wohnung. Spaßig überspitzt gespielte Empörung von Suse, und erneut pries sie die Vorteile dieses eigenwilligen Baumes an. Er war hoch gewachsen hatte eine lange gut verzweigte Spitze und dann eine nicht endenwollende freie Stelle, die, man sah es genau, vom vielen Hin- und Herstellen richtig blank und abgewetzt war, ehe sich ein richtig dichtes Nest an eng verzweigten, schon nadelnden Ästen ergab.
Es schaute wie eine Mutation aus.
Es war unmöglich, dort mit der Hand hineinzufassen geschweige noch dort irgendwo Kerzen unterzubringen. Danach kam noch ein dickes Ende, das aussah wie ein Stubben, den sie mir sofort als prima Badeofenbrennholz in Aussicht stellte. Für eine warme Wanne reicht es sicher.
Nachdem mir das alles zu dumm war, sagte ich, sie sollte nun diese erbärmlich nadelnde Krücke an die Seite stellen und den richtigen Baum vom Boden holen.- - -
Da war aber keiner.---
Suse blieb dabei, den einzigen, wahren, möglichen Weihnachtsbaum nebst eiskalten Händen mit nach Hause gebracht zu haben. Ich gab endlich auf.
Meine Hoffnungen auf ein schönes friedliches Lichtermeer schwanden dahin. Suse konnte endlich vom kalten Treppenhaus in die warme nach allen Wohlgerüchen Asiens duftende Küche eintreten mitsamt dem nadelnden Etwas. Er wurde von ihr an das Fenster gelehnt, dem einzigen freien Platz, mit der Bemerkung, er braucht nicht mehr auf den Balkon, es seien ja nur noch Stunden bis Heiligabend und außerdem sollte ich mich an ihn gewöhnen.
Damit verließ sie naschenderweise die Küche. Ihr Auftrag war erfüllt.

Nun erfaßte mich das Problem, was soll ich bloß mit dem miesen Ding anfangen. Hatte aber noch so viele Vorbereitungen, daß ich mich nicht weiter um ihn scherte. Er stand nur nadelnd und langsam auch etwas duftend in der Küche herum.
Als wir ins Bett gingen und endlich Ruhe einkehrte, war ich noch weit, weit weg von einer brauchbaren Idee, was wir nun als Weihnachtsbaum nehmen könnten. Ich lag lange wach.

Da fielen mir die Jahre ein, in denen mein Vater mit mir durch die Wälder zog und wir immer den allerschönsten Baum fanden und voller Stolz nach Hause trugen. Mir wurde plötzlich klar, daß es immer ein ganz Besonderer war. Einmal befestigte Vater um die Stammitte herum eine Platte, auf der die ganze Weihnachtsgeschichte Platz hatte. Die Heilige Familie im Stall bei Ochs und Esel, der Engel, die drei Könige aus dem Morgenland, die vielen Schafe und ihre Hirten mit Hund. Alles war immer wieder neu. Besonders schön waren seine Geschichten, die er während der Vorbereitung des Weihnachtsbaumes dazu erzählte, die jedes Jahr die alten, aber immer wieder neue waren. Ich brannte immer auf seine so bildhaften Erzählungen.

Diese Erinnerungen halfen mir dabei, den Besen gedanklich in einen prachtvollen Weihnachtsbaum zu verwandeln. Ich knobelte herum, kroch aus dem warmen Bett griff mir ein Zentimetermaßband und fing an meine Ideen zu präzisieren.
Also die Länge müßte sich verringern und die Lampe käme an einen anderen Platz an der Decke und der Weg wäre frei zum Einzug des Baumes.
Die Idee war klar und unumstößlich. Jetzt bestand nur noch die Aufgabe, alles dem Ingo plausibel zu machen, daß er uns den Baum waagerecht über den Tisch hängt. Auf das kahle Ende müßten die Kerzen angebracht werden, dann hätte auch das alles seine Daseinsberechtigung und ist bestens ausgenutzt.
Ich war so sehr angetan von meinen Ideen, daß ich Ingo noch in dieser Nacht weckte und ihm mit meinen Gedanken ins Ohr kroch. Es war ein hartes Stück Arbeit, ihn zu überreden. Dann gingen wir am Morgen ganz heimlich ans Werk. Die Kinder durften nun nicht mehr in die Stube. Es wurde gesägt, geflucht, Dreck gemacht, wieder aufgesaugt und der Baum von seinem Drehwurm durch Verspannen in alle vier Richtungen befreit. Dann wurde das grünlich anmutende Gestänge mit allen Würden ausgestattet, überflutete die Stube mit seinem warnen Licht und war nun unser Weihnachtsbaum.
Diesen zu entdecken fiel unseren beiden Kindern, die sich nach Ertönen des Glöckchens durch den Türspalt drängten, sehr schwer. Es war Kerzenlicht, aber an der Stelle, wo immer der Baum stand war nichts.! -----
Das Rätsel klärte sich erst beim "frommen" Blick nach oben.
Die Freude und Überraschung, die wir beide unseren Kindern vorbereitet hatten, war gelungen und besonders stolz war unsere Suse.
Aller Spott und kalte Hände waren vergessen.
Traulich saßen wir nun um unseren Weihnachtstisch und ließen uns von oben die fehlende Petersilie auf die Salzkartoffeln fallen.

 


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